Vom Eise befreit

Vor dem Tor

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)

Aufklärungspflicht bei der Corona-Impfung

Schutzimpfungen: Aufklärungspflicht aus juristischer Sicht

Dtsch Arztebl 1997; 94(26): A-1794 / B-1518 / C-1416

Bütikofer, Julia

Der Arzt, insbesondere der Kinderarzt, befindet sich angesichts der immer umfangreicher werdenden Rechtsprechung zum Impfschadensrecht in einer wenig beneidenswerten Situation: Impft er, und kommt es nachfolgend zu einem Impfschaden, wird er womöglich regreßpflichtig gemacht, weil er einen medizinischen, zumindest jedoch einen sogenannten informatorischen Kunstfehler begangen hat. Impft er nicht, und die Krankheit, gegen die er hätte impfen können, tritt auf und führt womöglich zu Dauerschäden, wird ihm eventuell der Vorwurf eines Behandlungsfehlers gemacht.
Angesichts dieser Situation macht es jedoch keinen Sinn, zwischen Medizinern und Juristen ein Feindbild zu schaffen. Dies ist mit Sicherheit der falsche Weg, um zum gemeinsamen Ziel – dem verantwortungsbewußten Umgang mit Impfungen – zu gelangen.

Regreßansprüche
Aus juristischer Sicht sollte von Ärzten nicht verschwiegen werden, daß Impfungen keineswegs ein harmloser Eingriff in das Immunsystem sind. Auch mögliche Impfschäden sollten keineswegs a priori negiert werden. Ärzte sollten vielmehr Eltern in die Verantwortung für die Entscheidung „pro“ oder „contra“ impfen mit einbeziehen. Es geht nicht an, daß die Eltern zwar für ihre Kinder mögliche Vorteile der Impfungen in Anspruch nehmen wollen, bei Auftreten von Impfschäden jedoch unverzüglich nach einer juristischen Möglichkeit suchen, den Impfarzt regreßpflichtig zu machen. Die aktuellen Impfempfehlungen der STIKO geben dem Arzt wertvolle – und leider oft übersehene – juristische Hinweise, wie er Regreßansprüche bei Impfungen vermeiden kann.
Es muß daher mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß vor Durchführung jeder Impfung oder Impfserie eine Aufklärungspflicht des Arztes besteht, wodurch der Impfling oder seine Eltern oder Sorgeberechtigten in die Lage versetzt werden sollen, über die Teilnahme an der Impfung zu entscheiden.
Die STIKO hat klar herausgearbeitet, worüber der Arzt vor Durchführung einer Impfung auf jeden Fall aufklären muß. Ergänzend ist aus juristischer Sicht noch auf folgendes hinzuweisen: Die höchstrichterliche Rechtsprechung hält daran fest, daß jeder Eingriff in die körperliche oder gesundheitliche Befindlichkeit des Patienten – sei er behandlungsfehlerhaft oder frei von einem Behandlungsfehler – als Verletzung des Behandlungsvertrages und als rechtswidrige Körperverletzung zu werten ist, wenn er sich nicht im konkreten Fall durch eine wirksame Zustimmung des Patienten gerechtfertigt erweist (Karlmann Geiß, Arzthaftpflichtrecht, 2. Auflage, Seite 169 ff. mit weiteren Nachweisen). Der Umfang und der Genauigkeitsgrad der Aufklärung sind umgekehrt proportional zur Dringlichkeit des Eingriffs (Karlmann Geiß, a.a.O., Seite 171). Dies besagt: Je weniger dringlich sich der Eingriff in zeitlicher und sachlicher Hinsicht für den Patienten darstellt, desto weitergehend ist das Maß und der Genauigkeitsgrad der Aufklärungspflicht.
Umfang und Intensität der Aufklärung lassen sich dabei nicht abstrakt festlegen; sie sind an der jeweils konkreten Sachlage auszurichten, und zwar sowohl an der konkreten medizinischen Behandlung wie am konkreten Patienten, unter Berücksichtigung seiner speziellen beruflichen und privaten Lebensführung (patientenbezogene Aufklärung).
Die höchstrichterliche Rechtsprechung läßt das Maß aufklärungspflichtiger Risiken von dem unmittelbaren Nutzen abhängen, den der Eingriff für den Patienten hat. Das bedeutet, daß z. B. vor einer Operation, zu der es praktisch keine Alternative gibt, nur über die wesentlichen Risiken aufgeklärt werden muß (vergleiche BGHZ 90, 103), während zum Beispiel bei einer vorbeugenden Impfung jede – auch relativ unwahrscheinliche – Eventualität aufklärungsbedürftig ist. Die früher einseitige Betonung der rein statistischen Risikokomplikationsdichte ist von der Rechtsprechung mit verschiedenen Begründungen weitgehend aufgegeben worden (vergleiche Karlmann Geiß, a.a.O., Seite 184 mit weiteren Nachweisen). Dies hat für den Impfarzt nun freilich die fatale Konsequenz, daß der Kreis der aufklärungsbedürftigen Risiken nicht mehr generell anhand bestimmter Wahrscheinlichkeitskriterien festgelegt werden kann. Da eine vorbeugende Schutzimpfung nicht dazu dient, eine beim Impfling bereits aufgetretene Krankheit zu bekämpfen, reduziert sich der individuelle Nutzen der einzelnen konkreten Schutzimpfung in demselben Maße, in dem bei ausgebliebener Schutzimpfung die Wahrscheinlichkeit einer Infektion gering ist.
Man wird deshalb aus Gründen der Vorsicht die Aufklärung auf der Basis der individualisierenden Betrachtungsweise sehr weit ziehen müssen (vergleiche auch Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 30/31). Aus den obergerichtlichen Entscheidungen zur Aufklärungspflicht des Impfarztes sowie aus den allgemeinen arztrechtlichen Grundsätzen lassen sich folgende Verallgemeinerungen ableiten:
Es ist zunächst über die Rahmenbedingungen der Impfung aufzuklären. Das bedeutet zum Beispiel, daß darüber aufgeklärt werden muß, ob die Impfung generell amtlich empfohlen ist oder ob die Empfehlung Einschränkungen enthält und ob der konkrete Impfling von diesen Einschränkungen erfaßt ist. Sodann ist stets auf die Freiwilligkeit der Impfung hinzuweisen sowie jeglicher Eindruck zu vermeiden, daß es sich um eine Zwangsimpfung handelt.
Die Aufklärung muß weiter den Nutzen der Impfung zutreffend schildern, nicht begründete Dramatisierungen einer unterbliebenen Schutzimpfung sind zu unterlassen. Darüber hinaus muß auf die möglichen Komplikationen eingegangen werden, die mit der Impfung verbunden sein können.
Aus Gründen der Vorsicht ist zur Vermeidung eines „informatorischen Kunstfehlers“ zu empfehlen, jegliche in der wissenschaftlichen Literatur berichtete Komplikation zu benennen. Die Auffassung vieler Ärzte, daß unterhalb einer bestimmten Komplikationswahrscheinlichkeit die Aufklärungspflicht ende, findet in der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung keine Stütze mehr.
Um einen geordneten Ablauf bei durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst veranstalteten Impfterminen zu gewährleisten, wird eine rechtzeitige Aufklärung in schriftlicher Form empfohlen. Eine Gelegenheit zur umfassenden Information durch ein Gespräch mit dem Impfarzt muß bei jedem Impftermin gegeben sein. Bei Einzelimpfungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes ist die mündliche Aufklärung die Methode der Wahl. Der Bundesgerichtshof tritt nachhaltig für die Aufklärung im persönlichen Arzt-Patienten-Gespräch ein, dessen verantwortungsvolle Führung er dem Arzt – ohne Gängelung durch Rechtsvorschriften – an die Hand gibt.


Delegation unmöglich
Der isolierten formularmäßigen Aufklärung begegnet der Bundesgerichtshof dementsprechend mit erheblicher Skepsis. Die durchgeführte Aufklärung ist in den Patientenunterlagen vom impfenden Arzt zu dokumentieren. Die Wahrnehmung der Aufklärungspflichten ist grundsätzlich dem Arzt vorbehalten. Sie darf nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auf nicht-ärztliches Personal delegiert werden. Um den immer strenger werdenden Anforderungen der Rechtsprechung an die ärztliche Aufklärungspflicht zu genügen, sollte der Impfarzt den Eltern eines Impflings oder dem zu impfenden Erwachsenen grundsätzlich schon rechtzeitig vor dem Impftermin schriftliches Informationsmaterial über die beabsichtigte Impfung zur Verfügung stellen und die Impfentscheidung beim Impftermin nochmals mit den Betroffenen besprechen. Der Impfarzt hat jedenfalls bei vorbeugenden Routineimpfungen eine ganz außerordentlich streng zu bemessende Aufklärungspflicht.
Er hat sie evtl. bereits dadurch verletzt, daß er den Impfling bzw. seine Eltern nicht auf die drastisch verringerte Impfindikation oder das Fehlen einer staatlichen Impfempfehlung hingewiesen hat (vergleiche OLG Stuttgart in VersR 1986, 1198 zur Pertussisimpfung). Sinn der ärztlichen Aufklärungspflicht ist es nämlich, dem Patienten eine eigenverantwortliche und vernünftige Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen.
Dem Patienten muß die Rechtsgewähr dafür gegeben werden, daß er in der medizinischen Betreuung nicht Objekt, sondern eigenverantwortliches Subjekt der Behandlung bleibt. Dazu ist es erforderlich, daß dem Patienten nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen und Notwendigkeiten des fraglichen Eingriffs dargelegt werden. Nur auf diese Weise kann der Patient eine abgewogene Entscheidung treffen.
Der Arzt sollte daher die Eltern des Impflings beziehungsweise den volljährigen Impfling viel mehr in die Entscheidung – und in das Haftungsrisiko – mit einbeziehen. Eine Möglichkeit hierzu bestünde darin, die Informationen, welche die Impfstoffhersteller in den Packungsbeilagen der Impfstoffe zum Impfrisiko bringen müssen, auch den Impflingen beziehungsweise deren Vertretern zur Kenntnis zu bringen. Hierüber habe ich schon mit vielen Ärzten gesprochen: Diese befürchten, Eltern würden ihre Kinder überhaupt nicht mehr impfen lassen, wenn sie wissen, was – in allerdings sehr seltenen Fällen – an nicht erwünschten Wirkungen des Impfstoffes auftreten kann.
Jedoch glaube ich zum einen nicht, daß Eltern überhaupt nicht mehr impfen lassen, wenn sie einfühlsam informiert werden, zum anderen muß es der Arzt im eigenen Interesse (um eine Schadensersatzklage zu vermeiden beziehungsweise einer solchen erfolgreich begegnen zu können) hierauf ankommen lassen:
Nicht Panikmache oder flotte Werbeslogans sollten bei der Entscheidung für oder gegen das Impfen im Vordergrund stehen, sondern umfassende, sachliche Information, die den Eltern des Impflings oder dem zu impfenden Erwachsenen eine eigenverantwortliche Entscheidung für oder gegen das Impfen ermöglichen.
Leider lassen viele Ärzte Informationen über das Impfrisiko immer noch nicht zur Kenntnis gelangen,
– obwohl die Impfstoffhersteller in den Beipackzetteln zu den Impfstoffen deutlich und verständlich auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen, – obwohl die STIKO auf die Aufklärungspflicht hinweist, – obwohl die Ärzte schon auch aus haftungsrechtlichen Gründen auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen sollten.
Diese Mauer des Schweigens vor Impfrisiken scheint mir nicht sachdienlich, leistet der Falschinformation oder der unvollständigen Information über Impfschäden Vorschub und führt zu einer schrecklichen Polarisierung der Meinungen.
In 20 Jahren beruflicher Erfahrung mit Impfschäden hatte ich nur mit sehr wenigen Fällen zu tun, in denen es schicksalsmäßig zu einem Impfschaden kam; die meisten schweren Impfschadensfälle, mit denen ich beruflich befaßt war, wären wohl vermeidbar gewesen, wenn Kontraindikationen gegen Impfungen sorgfältiger beachtet worden wären und wenn insbesondere Kinder erst nach sorgfältiger Untersuchung routinemäßig geimpft worden wären.
Wenn der Impfarzt nicht – oder zumindest nicht rechtzeitig – aufgeklärt hat oder diese Aufklärung zumindest nicht beweisen kann, können erhebliche strafrechtliche und auch zivilrechtliche Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Bei Impfschäden haftet zwar der Staat nach §§ 51 ff. Bundesseuchengesetz generell, sofern es sich um eine amtlich empfohlene Impfung handelt.
Allerdings sind die Ersatzleistungen nach dem BSeuchG begrenzt, insbesondere wird kein Schmerzensgeld gezahlt. Bei Verletzung der Aufklärungspflicht haftet der Impfarzt – was viel zu wenig bekannt ist – neben dem Staat wegen Vertragsverletzung und wegen unerlaubter Handlung, was unter anderem zu einem Schmerzensgeldanspruch des Impflings gegen den Impfarzt führt. Im Zivilprozeß gegen den Arzt muß der Impfling nur beweisen, daß er geimpft wurde und der Schaden auf der Impfung beruhte.
Der Arzt muß dagegen beweisen, daß eine wirksame Einwilligung vorlag, und das heißt vor allem, daß er hinreichend aufgeklärt hatte. Mißlingt ihm dieser Beweis, dann wird er zur Zahlung von Schadensersatz und gegebenenfalls von Schmerzensgeld verurteilt.
Günstiger ist die Beweislage für den Impfarzt nur im Strafprozeß: An sich liegt bei Verletzung der Aufklärungspflicht eine strafbare Körperverletzung vor, die bei schweren Folgen mit empfindlicher Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Jedoch ist der Arzt nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ freizusprechen, wenn die Verletzung der Aufklärungspflicht nicht nachgewiesen werden kann.
Zweifel an der Vollständigkeit der Aufklärung gehen im Zivilprozeß zu Lasten des Arztes; lediglich im Strafprozeß führen sie zum Freispruch (vergleiche Impfkompendium, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz Spiess, Thieme Verlag 1994, Seite 33). Ein Aufklärungsgespräch in dem Umfang, wie es die STIKO und auch die Rechtsprechung vom Impfarzt fordert, wird sicher derzeit in der Praxis nicht angemessen honoriert.
Diese Tatsache darf jedoch nicht dazu führen, dieses Aufklärungsgespräch nicht zu führen, sondern dazu, dieses Aufklärungsgespräch angemessen zu honorieren, denn wenn eine Impfung erst nach umfassender Aufklärung durchgeführt wird, ist das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, erheblich minimiert.
Da durch einen schweren Impfschaden nicht nur unvorstellbares menschliches Leid auf die Betroffenen zukommt, sondern auch enorme finanzielle Lasten auf die Krankenkassen, die Versorgungsämter, die durch den Impfschaden unmittelbar Betroffenen und unter Umständen auch auf den Impfarzt, sollte nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen darauf geachtet werden, daß Impfungen erst nach sorgfältiger Aufklärung und Beachtung von Kontraindikationen durchgeführt werden.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1794-1796
[Heft 26]


Anschrift der Verfasserin
Julia Bütikofer, Rechtsanwältin
Happurger Straße 54
90482 Nürnberg

Missbrauchsfall katholische Kirche

Das Urteil des SG Dortmund zum Missbrauchsfall in der katholischen Kirche wird in der Presse – so auch von Blogger Danisch – so dargestellt, dass das SG Dortmund den Missbrauch aufgedeckt oder festgestellt bzw. bewiesen habe. Das ist jedoch nicht der Fall. Es handelt sich um eine Entscheidung aus dem Entschädigungsrecht nach dem Opferentschädigungsgesetz: Dem Opfer wurde eine Entschädigung zugesprochen.

Hier besteht eine wichtige beweisrechtliche Besonderheit: Das Opfer muss nur glaubhaft machen, geschädigt worden zu sein: Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KriegsopfVwVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 Opferentschädigungsgesetz anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Das SG Dortmund hat in dem entschiedenen Fall den Missbrauch nur auf Grund der von ihm als glaubhaft angenommenen Angaben des Klägers angenommen.

Hier das Urteil im Wortlaut:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2017 verurteilt, die Gesundheitsstörung posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anzuerkennen und ab 24. April 2015 eine Versorgung nach dem Grad der Schädigung von 70 zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Opferentschädigung für erlittene Misshandlungen und sexuellen Missbrauch in einem katholischen Kinderheim und einer Ausbildungsstätte in D-Stadt in der Zeit von 1963 bis 1975.

Der Kläger wurde 1957 in E-Stadt geboren, als Kind einer 22 Jahre alten Deutschen und eines amerikanischen Soldaten. Der Vormundschaftsakte des Amtsgerichts Mainz ist zu entnehmen, dass die Mutter des Klägers „seit Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgegangen ist und sich von Amerikanern aushalten ließ“. Sie unterhielt „laufend Beziehungen zu amerikanischen Soldaten“ und hatte drei nichteheliche Kinder. Die beiden älteren Brüder des Klägers wurden 1954 und 1956 geboren. Am 3. Januar 1959 griff die Polizei den Kläger zusammen mit seinem Bruder E. in einer Kneipe in E-Stadt auf. Er kam dann zunächst in das Städtische Säuglingsheim in E-Stadt. Seine Mutter musste mehrere mehrwöchige Haftstrafen verbüßen und hatte keinen Kontakt mehr zu ihren Söhnen, sie zahlte auch keinen Unterhalt. Der mittlere Bruder F. wurde von seinem leiblichen Vater aufgenommen und adoptiert. Er lebt mit der Familie des Vaters in den USA. Die beiden anderen Kinder wurden zur „Heimpflege gegeben“.

Im März 1960 kam der Kläger vom Städtischen Säuglingsheim E-Stadt in ein Schwesternheim in G-Stadt. Dort hielt er sich bis Februar 1962 auf. Dann kam er von Februar 1962 bis November 1962 in eine Pflegefamilie in E-Stadt und anschließend in der Zeit vom 28. November 1962 bis 21. März 1963 in das Städtische Kinderheim in E-Stadt.

Am 21. März 1963 wurde der Kläger im Alter von 5 ½ Jahren im katholischen Kinderheim in der D-Straße in D-Stadt aufgenommen. Das Kinderheim wurde von den H. Schwestern geführt. Etwa 10 bis15 Schwestern waren für die Kinder zuständig. Der Kläger lebte bis zum 4. September 1972 in dem Kinderheim, das geht aus einem Auszug des Belegbuchs für die damalige Zeit der Einrichtung hervor. Mit Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 6. Mai 1964 wurde der Mutter das Personensorgerecht für den Kläger und seinen Bruder E. wegen „Vernachlässigung“ entzogen. In einem Bericht der Heimleiterin, Schwester I., vom 21. November 1967 schilderte sie, dass der Kläger sich schnell und gut eingewöhnt habe. Er nässe jedoch noch fast jede Nacht ein, trotz Wecken und Vermeidung von Flüssigkeiten am Abend. Er habe das für einen Bettnässer typische blasse Aussehen. Er habe ein weiches Gemüt, sei freundlich, werde schnell mutlos und zornig. Man erlebe selten ein so zorniges Kind, wie diesen Buben. Der Kläger sei dort ganz zu Hause, es schauten keine Mutter oder sonstigen Angehörigen nach ihm. Sie seien sehr froh, dass sein Taufpate, ein D-Stadter Herr, ihn immer wieder besuche und ihn mit kleinen Geschenken erfreue. So wisse der Kläger, der besonders liebesbedürftig sei, dass doch noch jemand außerhalb des Heimes an ihn denke. In einem weiteren Bericht vom 24. September 1968 führte Schwester I. aus, der Kläger habe jetzt eine stabilere Gesundheit, nässe aber noch oft nachts ein. Von seinen Angehörigen bekomme er nie ein Lebenszeichen. Es sei auch sehr zu bedauern, dass sein „großer Freund“, sein Taufpate, nicht mehr in D-Stadt wohne. Auch in weiteren Berichten des Kinderheims, wird von häufigem nächtlichen Einnässen und keinem familiären Kontakt des Klägers berichtet. Mit Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 21. August 1970 wurde der Mutter des Klägers die „elterliche Gewalt“ über ihn und seinen Bruder E. entzogen und das Städtische Jugendamt Mainz als Vormund bestellt. Im August 1975 wurde die Amtsvormundschaft nach Erreichen der Volljährigkeit des Klägers beendet.

Der Kläger beschreibt die Jahre im Kinderheim in D-Stadt als „Zeit des ständigen Missbrauchs“. Als Täter gibt der Kläger insbesondere den damaligen Domkapitular Prälat Dr. K. K. an, der sich alleine, sowie auch zusammen mit anderen Personen an ihm und anderen Kindern vergangen habe. Hochgerechnet auf die Jahre seines Aufenthalts im Kinderheim geht der Kläger von 1000 Missbrauchsfällen aus, sowie weiteren 300 Missbrauchsfällen während seiner nachfolgenden Ausbildung in einer Bäckerei durch einen dortigen Gesellen, der zuvor selbst in dem katholischen Kinderheim in der D-Straße gelebt hatte. Seine Erlebnisse hat der Kläger auf der Internet-Seite http://www.xxxxx.eu dokumentiert.

Als weiteren Vorfall schildert der Kläger, im September 1970 ein ihm bekanntes Mädchen erhängt aufgefunden zu haben. Das Mädchen sei schwanger gewesen und eines Tages beim Abendessen vermisst worden. Er habe nach ihr gesucht und sie dann auf dem Speicher erhängt aufgefunden. Er sei nach unten in den Essensraum gegangen und habe den Nonnen Bescheid gesagt. Die einzige Reaktion sei gewesen, dass er still sein und nichts sagen sollte. Wochen vorher sei er mit dem Mädchen bei der Polizei und anderen Behörden gewesen, um den Missbrauch anzuzeigen, es habe ihnen aber niemand geglaubt und sie seien stets zurück ins Heim geschickt worden. Er sei davon überzeugt, dass sich das Mädchen nicht selbst aufgehängt habe, es sei nirgends eine Aufstiegshilfe zu sehen gewesen, die es dem Mädchen ermöglicht hätte, selbst den Strick bzw. Schal an dem Balken anzubringen und sich dann selbst zu erhängen.

Vom 4. September 1972 bis 13. Juni 1975 absolvierte der Kläger eine Bäckerausbildung in der Bäckerei L. in D-Stadt. Dort wohnte er auch. Dazu gab der Kläger an, sein Bett habe in einem Durchgangszimmer gestanden, dahinter habe sich das Zimmer des 10 Jahre älteren Bäckergesellen befunden, der ihn mindestens einmal pro Woche missbraucht habe, bis er ihn zusammengeschlagen habe.

Am 21. September 2011 fand eine Anhörung des Klägers vor dem Bischöflichen Beauftragten, Leitender Kriminaldirektor a.D. N. N. im Polizeipräsidium Ludwigshafen statt. Dabei berichtete der Kläger, dass er im Kinderheim in D-Stadt zwangsgetauft worden sei. Sein Taufpate sei ein taubstummer Herr gewesen. Alle Jungen hätten Messdiener werden müssen. Er habe das damals nicht gewollt, das habe aber keine Rolle gespielt. In der Zeit als Ministrant, im Alter von 10-11 Jahren, habe der Missbrauch systematisch angefangen. Er sei als Ministrant im Dom eingesetzt worden und dort einem Prälaten zugeordnet worden. Der Priester sei gleichzeitig sein Beichtvater gewesen, so sei der „Kreis immer geschlossen gehalten worden“. Dies sei Dr. K. gewesen. Er habe ihn mit in seine Wohnung genommen und sei anal und oral in ihn eingedrungen. Dabei habe er auf seiner Kniebank knien müssen. Ein- bis zweimal im Monat habe er zu ihm kommen müssen. Es sei immer ein Vorwand gesucht worden, damit er zu ihm kommen musste (z.B. Hilfe im Garten). Er habe nie zu ihm gehen wollen, aber die Nonnen hätten ihn „regelrecht hingeschleppt“, irgendwann habe er die Gegenwehr aufgegeben und alles über sich ergehen lassen. Manchmal seien zu Dr. K. noch andere Priester dazugekommen. Einmal hätten ihn 3 Priester auf einmal missbraucht. Alle seien oral und anal in ihn eingedrungen und hätten „ihre Sexspielchen“ mit ihm gemacht. Vom Bistum D-Stadt erhielt der Kläger eine Zahlung „in Anerkennung des Leids“ in Höhe von 15.000 EUR.

Im April 2012 stellte der Kläger Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Frankenthal und der Staatsanwaltschaft Mainz. Die Verfahren wurden im September 2012 wegen Verjährung eingestellt (§ 170 Abs. 2 StPO).

Schließlich beantragte der Kläger am 24. April 2015 beim Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der Kläger stand in der Zeit ab der Antragstellung bis fortdauernd laufend im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 12. Januar 2017 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab, es könne nicht als erwiesen angesehen werden, dass der Kläger infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG erlitten habe. Alle anspruchsbegründenden Tatsachen müssten zur Überzeugung des Beklagten erwiesen sein, fehle es hieran, gehe dies zu Lasten des Klägers. Auf der Grundlage des noch ermittelbaren Sachverhalts und der zur Verfügung stehenden Beweismittel, sei es unter Berücksichtigung der dargestellten Beweislastregeln und Nachweisgrundsätze nicht möglich, Entschädigungsleistungen nach dem OEG zu gewähren.

Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. September 2017 zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, im Opferentschädigungsgesetz müssten die anspruchsbegründenden Voraussetzungen feststehen. Erst wenn die Tat, die gesundheitliche Schädigung und die Schädigungsfolge selbst bewiesen seien, könne die sogenannte Kausalität zwischen Tat und gesundheitlicher Schädigung geprüft werden. Im OEG gelte grundsätzlich der Maßstab des Vollbeweises, d.h. die anspruchsbegründenden Voraussetzungen müssten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Hierzu bedürfe es objektiver Beweismittel. Solche seien nicht (mehr) beizuziehen. Hinsichtlich der angegebenen Ereignisse im Kinderheim, habe eine Nachfrage bei den H. Schwestern, die das Heim geführt hatten, ergeben, dass dort keine Unterlagen mehr vorhanden seien. Der der Taten beschuldigte Prälat Dr. K. sei bereits verstorben. Zeitnahe medizinische Unterlagen lägen nicht (mehr) vor. Die Staatsanwaltschaft habe ein auf Antrag des Klägers im Jahr 2012 eingeleitetes Ermittlungsverfahren aus Gründen des Verfolgungshindernisses der Verjährung einstellen müssen. Das gleiche gelte für die in der Ausbildung geltend gemachten Ereignisse. Die Eheleute L. hätten angegeben, dass ihnen von sexuellen Übergriffen nichts bekannt sei und Unterlagen nicht mehr vorhanden seien. Der insoweit beschuldigte Herr O. sei verstorben. Die Staatsanwaltschaft habe auch hier das Verfahren einstellen müssen. Objektive Beweismittel lägen nicht vor. Damit sei eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Da zudem ein zeitbedingter Beweisverlust nicht ausgeschlossen werden könne, scheide die Annahme der Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung nach der Rechtsprechung aus. Derjenige, der erst nach Jahrzehnten einen Antrag auf Versorgung stelle, habe den mit dem Zeitverlust einhergehenden Verlust von Beweismitteln zu tragen.

Mit der am 23. Oktober 2017 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, der Beklagte begründe seine Ablehnung im Wesentlichen damit, dass die anspruchsbegründenden Voraussetzungen, insbesondere hier die Tat selbst, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststünden und es objektiver Beweismittel bedürfe. Hierbei verkenne der Beklagte, dass dies einen zu hohen Anspruch an die Frage der Feststellung der Tat stelle. Allein die Tatsache, dass der Kläger nicht alleine behaupte, Opfer von Straftaten im Kinderheim geworden zu sein, führe dazu, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen seien. Seines Wissens nach habe es im Bistum D-Stadt xx Verdachtsfälle gegeben, bei denen in 31 Fällen finanzielle Leistungen übernommen worden seien. Darüber hinaus hätten sich die H. Schwestern gegenüber Herrn P. entschuldigt, was ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf gleichartige Taten hindeute. Die Nonnen hätten den Kläger und den Zeugen P. einem Pater in D-Stadt zugeführt. Dort sei der sexuelle Missbrauch erfolgt. Hierfür stehe P. P. als Zeuge zur Verfügung, auch Q. Q. stehe als Zeuge zur Verfügung. Aus diesen Zusammenhängen ergäbe sich, dass der Kläger nicht alleine von sexuellen Übergriffen zu seinem Nachteil spreche, sondern, dass durchaus andere Zeugen vorhanden seien, die diese Übergriffe zu ihren Nachteilen bestätigten.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2017 dem Kläger Leistungen nach dem OEG zu gewähren,

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er nimmt Bezug auf die Ausführungen in den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen. Er führt weiter aus, es sei nicht ausreichend, dass auch andere Personen Straftaten geltend machen würden. Der Nachweis eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs sei nicht allgemein, sondern nur konkret in Bezug auf eine Person festzustellen. Die mit der Klage nur noch allgemein geltend gemachten Straftaten in dem Kinderheim zu Lasten des Klägers seien nicht bewiesen. Bei einem nicht auszuschließenden zeitbedingten Verlust von Beweismitteln, könne von dem Maßstab des Vollbeweises nicht abgewichen werden. Er macht zudem geltend, aus den eingegangen Unterlagen und Antworten ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen eines vorsätzlich rechtswidrigen tätlichen Angriffs in Bezug auf den Kläger beweisen könnten. Das Fehlen der Nachweislichkeit gehe zu Lasten des Klägers. Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts bei der Landeshauptstadt Mainz (Jugendamt), beim Amtsgericht Mainz (Vormundschaftsgericht), beim Amtsgericht Speyer (Vormundschaftsgericht) und bei der Stadt Speyer (Jugendamt) Akten über den Kläger angefordert.

Die Stadt Mainz übersandte am 30. August 2018 die dort geführten Amtsvormundschaftsakten über den Kläger (2 Bände). Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Jugendamtsakten Bezug genommen.

Das Amtsgericht Mainz legte mit Schreiben vom 3. September 2018 die Vormundschaftsakte über den Kläger vor (1 Band). Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Vormundschaftsakte Bezug genommen.

Das Amtsgericht Speyer teilte mit Schreiben vom 27. August 2018 mit, ebenso wie die Stadt Speyer mit Schreiben vom 25. September 2018, dass über den Kläger keine Akte vorhanden sei und über Fälle von Misshandlungen oder Missbrauch im Kinderheim D Straße in D-Stadt keine Erkenntnisse vorlägen.

Das Gericht hat außerdem bei den Schwestern vom XX. in Nürnberg versucht, Unterlagen über den Kläger bzw. Auskünfte über Misshandlungen und Missbrauchsfälle im Kinderheim D-Straße / D-Stadt zu bekommen, sowie eine Anfrage an den Missbrauchsbeauftragten des Bistums D-Stadt gerichtet.

Der Missbrauchsbeauftragte des Bistums D-Stadt (R. R.) teilte mit Schreiben vom 31. August 2018 mit, es längen Informationen über Misshandlungen und Missbrauch im Kinderheim D-Straße in D-Stadt vor. Nach seinen Informationen habe es 4 Verfahren gegeben, es sei auf weitere Fälle hingewiesen worden, über die 4 Betroffenen hinaus habe sich aber niemand an sie gewandt. Das Kinderheim in der D-Straße sei von den H. Schwestern geführt und im Jahr 2000 geschlossen worden. Akten hätten nicht mehr gefunden werden können. Bei Anhörungen noch lebender Schwestern hätten einige wenige Informationen gewonnen werden können. So seien Fotos, auf denen der Kläger zu sehen sei, gefunden und an ihn übergeben worden. Sie belegten zusammen mit einer ebenfalls aufgefundenen Namensliste seine Anwesenheit im Heim. Die angehörten Schwestern hätten mitgeteilt, Akten seien bei den zuständigen Jugendämtern geführt worden. Insoweit seien effiziente Recherchen nicht zu erwarten, da mehrere Betroffene berichtet hätten, Besuche des Vormunds im Heim hätten nie stattgefunden. Über an den Kindern vorgenommene Medikamentenversuche sei ihm nichts bekannt. Mit Schreiben vom 12. September 2018 teilte der Missbrauchsbeauftragte der H. Schwestern (S. S.) mit, dass keine Unterlagen zum Aufenthalt von Kindern im Kinderheim D-Straße / D-Stadt vorlägen. Ihm seien nur Schilderungen des Klägers bekannt, andere Zöglinge des damaligen Heims in D-Stadt hätten sich nicht an ihn gewandt. Ob Untersuchungen zu den Verhältnissen im Kinderheim stattgefunden hätten, sei ihm nicht bekannt. Befragt worden seien, neben dem Kläger, soweit noch möglich, damals dort tätige Schwestern des Ordens. Diese hätten die Behauptungen des Klägers nicht bestätigt. Wegen der vom Kläger behaupteten Selbsttötung eines Mädchens im Kinderheim seien Anfragen an die Polizei und die zuständige Staatsanwaltschaft gerichtet worden, aber ergebnislos geblieben. Von Medikamentenversuchen an Kindern sei ihm nichts bekannt. Im Übrigen sei der Kontakt zu dem Kläger beendet worden.

Mit Schreiben vom 4. April 2019 teilte das Bistum D-Stadt durch den Justitiar T. T. mit, die frühere Aussage, dass keine verifizierbaren Erkenntnisse über das Kinderheim „D-Straße“ vorlägen, müsse mittlerweile korrigiert werden, denn aufgrund eines Aktenfundes könne zumindest die Betreuung des Klägers in besagter Einrichtung nachgewiesen werden. Ferner hätten jüngste Zeugenaussagen eine Täterschaft des auch vom Kläger benannten verstorbenen Prälaten Dr. K. K. in anderen Fällen bestätigt. Sie gingen daher davon aus, dass auch der Kläger Opfer dieses Herrn geworden sei. Es werde angeregt, diese neuen Erkenntnisse zum Gegenstand der Entscheidungsfindung zu machen. Auf Nachfrage des Gerichts wurde eine Kopie aus dem Belegungsbuch des damaligen Kinderheims „D Straße“ übersandt, darüber hinaus war das Bistum D-Stadt nicht dazu bereit, die Aktenfunde vorzulegen oder die Namen der Zeugen zu benennen, um eine Retraumatisierung zu vermeiden. Es hätten sich zwei weitere Betroffene bei ihren Ansprechpartnern für sexuellen Missbrauch gemeldet, die den Dr. K. als Täter angaben. Beide Aussagen würden als glaubhaft bewertet. Eine Aussage betreffend konkreter Missbrauchshandlungen des Dr. K. zu Lasten des Klägers könnten diese Personen denknotwendig nicht treffen, da der Täter in diesen Fällen keine Zeugen bei seinen Taten zugelassen habe. Das Bistum gehe in seiner Verwaltungspraxis im Zusammenhang mit der Bearbeitung sog. „Anträge in Anerkennung des Leids“ nach den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz davon aus, dass bei verstorbenen mutmaßlichen Tätern, die von mehr als einem Zeugen benannt würden, eine Missbrauchshandlung vorliege. Dies sei hier der Fall.

Zudem hat das Gericht die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Berlin (Prof. Dr. U. U.) und den Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz (V. V.) zur Auskunftserlangung angeschrieben. Herr V. verwies mit Schreiben vom 20. September 2018 auf die Studie des Forschungsprojekts zum sexuellen Missbrauch vom 25. September 2018 (als Download auf http://www.dbk.de). Von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wurde mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 mitgeteilt, dass keine Einzelfälle untersucht würden, sie führe auch keine täterbezogenen Feststellungen durch. Es gehe ihnen nicht darum, zu bestimmten Orten, wie einzelnen Heimen, möglichst viele Informationen und Betroffenenberichte zu sammeln, sondern darum, Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen Betroffener herauszuarbeiten sowie hieraus Schlüsse zu ziehen und Handlungsempfehlungen zu geben. Bei der Aufklärung eines konkreten Missbrauchs in einem katholischen Kinderheim könne nicht geholfen werden.

Das Gericht hat darüber hinaus Unterlagen über den Kläger beim Gesundheitsamt des Kreises Bergstraße angefordert und einen Befundbericht bei dem Diplom-Psychologen Dr. W. W. eingeholt.

Das Gesundheitsamt des Kreises Bergstraße übersandte am 18. Juli 2018 eine amtsärztliche Stellungnahme zur Erwerbsfähigkeit des Klägers. Daraus ergibt sich eine eingeschränkte körperliche Belastbarkeit aufgrund von verschiedenen internistischen und orthopädischen Erkrankungen, sowie eine reaktiv depressive Verstimmung als Folge eines Traumas, weshalb immer mit kurzfristigen Fehlzeiten gerechnet werden müsse.

Dr. W. berichtete mit Befundbericht vom 20. Juli 2018 über den Kläger, der sich in der Zeit von November 2011 bis Dezember 2015 bei ihm in psychotherapeutischer Behandlung befand. Er gab an, der Kläger habe unter einer seit Jahrzehnten bestehenden, schweren Traumafolgesymptomatik, mit ausgeprägtem Depersonalisations- und Derealisationserleben und einer durch die Traumatisierung bedingten sekundären rezidivierenden depressiven Erkrankung gelitten. Die Diagnosen seien zu der Behandlung mit allgemein anerkannten, standardisierten diagnostischen Verfahren gesichert worden. Auf Grund dieser psychischen Erkrankungen und deren chronischen Verlauf sei der Kläger im Alltag praktisch nicht belastbar und nur gelegentlich in sehr geringem Umfang arbeitsfähig, mit häufigen Unterbrechungen langer und völliger Arbeitsunfähigkeit. Die psychopathologische Symptomatik des Klägers sei ursächlich eindeutig auf langjährige, massive Missbrauchs- und Gewalterfahrungen als Kind und Jugendlicher in einem katholischen Kinderheim des Bistums D-Stadt zurückzuführen. Ende 2015 habe der Kläger in psychischer Hinsicht ausreichend alltagsstabilisiert aus der Therapie entlassen werden können. Wenngleich sich die Symptome zwar deutlich abschwächen ließen und der Leidensdruck im Verlauf der Behandlung abgenommen habe, so müsse dennoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aufgrund der Missbrauchserfahrungen zeitlebens immer wieder rezidivierend unter psychopathologischen Symptomen in klinisch relevantem Ausmaß leiden würde.

Das Gericht hat ein psychiatrisches Gutachten bei Prof. Dr. X. X. beauftragt, das unter dem 26. Oktober 2019 erstattet worden ist. Der Gutachter geht nach der Begutachtung des Klägers davon aus, dass er während seines Aufenthalts im katholischen Kinderheim D Straße in D-Stadt in der Zeit vom 21. März 1963 bis 4. September 1972 und während der Ausbildungszeit in der Bäckerei L. in D-Stadt vom 4. September 1972 bis 13. Juni 1975 Misshandlungen und Missbrauch erfahren habe. Im Kinderheim sei es zu ca. 1000-fachem sexuellen Missbrauch durch Dr. K. und die an den Partys teilnehmenden Herren, sowie körperlicher Misshandlung durch die Nonnen mit der Folge mehrfacher Knochenbrüche gekommen, in der Bäckerei L. zu ca. 300-fachem sexuellen Missbrauch durch den Gesellen. Dabei sei der Anteil der Auswirkungen der Missbrauchserfahrungen während der Zeit der Tätigkeit in der Bäckerei L. als deutlich geringer einzuschätzen als im Kinderheim D-Straße. Auf psychiatrischem Fachgebiet lägen bei dem Kläger folgende Gesundheitsstörungen vor: Eine schwere posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen, die mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 60 zu bewerten sei und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, für die ein GdS von 30 angemessen sei. Hinzukämen als im weiteren Sinne vorhandene Traumafolgestörungen, die mit Wahrscheinlichkeit auf die traumatischen Erfahrungen des Klägers zurückgingen, Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes Mellitus, wofür ein GdS von 30 in Ansatz zu bringen sei. Die Schädigungsfolgen insgesamt bewertet der Gutachter mit einem GdS von 70

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten (1 Band) und der Akten des Jugendamtes der Stadt Mainz (2 Bände), sowie des Amtsgerichts Mainz – Vormundschaftsgericht – (1 Band) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 12. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dem Kläger steht aufgrund in der Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlung gegen den Beklagten ein Versorgungsanspruch nach den §§ 110a OEG zu. Deshalb war der Beklagte zu verurteilen, die entsprechenden Schädigungsfolgen anzuerkennen und die dem Kläger zustehende Versorgung zu gewähren.

Ein Entschädigungsanspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009, – B 9 VG 1/08 R -, in juris, Rdn. 27 m.w.N.). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind (BSG, Urteil vom 17. April 2013, – B 9 V 1/12 R -, in juris, Rdn. 25; vgl. auch Hess. LSG, Urteil vom 26. Juni 2014, L 1 VE 30/10, in juris, Rdn. 16).

In Altfällen, wie dem vorliegenden, bei denen Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (23. Mai 1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16. Mai 1976) zeitlich einzuordnen sind, müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S. 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 S. 1 OEG erfüllt sein (BSG, Urteil vom 17. April 2013, – B 9 V 1/12 R-, in juris, Rdn. 26). Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Als tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. Der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein. In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern i.S. von § 176 Strafgesetzbuch (StGB) versteht das Bundessozialgericht den Begriff des tätlichen Angriffs aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG weiter. Insoweit kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich auch der 1. Senat des Hessischen Landessozialgerichts angeschlossen hat (Urteil vom 26. Juni 2014, –L 1 VE 30/10-, in juris, Rdn. 18), allein darauf an, dass die Begehungsweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat darstellen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern erfährt in Anlehnung an die BSG-Urteile vom 18. Oktober 1995 (Az.: 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93, beide in juris) eine Sonderbehandlung insoweit, als es für die Erfüllung des Gesinnungsmerkmals ausreicht, dass eine Rechtsfeindlichkeit besteht. Diese ist bereits dann zu bejahen, wenn z.B. der Tatbestand des § 176 des Strafgesetzbuches (StGB) erfüllt ist. Die Erfüllung des Straftatbestandes begründet quasi eine unwiderlegliche Vermutung für einen tätlichen Angriff. In Abweichung von der allgemeinen Dogmatik ist es beim sexuellen Missbrauch von Kindern nicht erforderlich, dass gerade eine feindlige Willensrichtung gegen das Opfer festzustellen ist. Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG sein. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

Kein Anspruchshindernis ist weiter, dass im vorliegenden Fall die einzelnen Missbrauchshandlungen nicht zeitlich – und wohl auch nicht der Art nach – genau fixierbar sind. Denn damit der tätliche Angriff bejaht werden kann, braucht seine konkrete Ausgestaltung nicht festzustehen. Es genügt an dieser Stelle, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass ein tätlicher Angriff stattgefunden hat. Versorgungsrechtlich anerkannt wird nicht die Tat, sondern der Gesundheitsschaden.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KriegsopfVwVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Sache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KriegsopfVwVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht dagegen nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 26. Juni 2014, a.a.O., Rdn. 19, m.w.N.).

Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben steht dem Kläger ein Anspruch auf Gewährung von Versorgungsleistungen wegen der Folgen sowohl sexuellen Missbrauchs, wie auch körperlicher Misshandlungen während seines Aufenthalts im Kinderheim in der D-Straße D-Stadt vom 21. März 1963 bis 4. September 1972 und während der Ausbildungszeit bei der Bäckerei L. vom 4. September 1972 bis 13. Juni 1975 zu.

(1) In tatsächlicher Hinsicht bestehen bei allen Mitgliedern der entscheidenden Kammer keine ernsthaften Zweifel daran, dass die vom Kläger beschriebenen Misshandlungen und sexuellen Missbräuche tatsächlich stattgefunden haben und die Tatbestandsvoraussetzungen des tätlichen Angriffs erfüllt sind. Über den tatsächlichen Aufenthalt des Klägers in dem von ihm benannten Heim und der Ausbildungsstätte liegen Nachweise vor (a), die persönlichen Angaben des Klägers sind glaubhaft (b), zudem liegen auch weitere Erkenntnisse zu dem vom Kläger in D-Stadt bewohnten Kinderheim vor (c).

(a) Es ist nachgewiesen, dass der Kläger sich in der Zeit vom 21. März 1963 bis 4. September 1972 im katholischen Kinderheim in der D-Straße in D-Stadt aufgehalten hat. Dies ergibt sich sowohl aus den Akten des Jugendamtes der Stadt Mainz, wie auch aus dem Eintrag im damaligen Belegbuch des Kinderheims (Bl. 118 der Gerichtsakte). Auch die Ausbildungszeit bei der Bäckerei L. in D-Stadt (L-Straße) vom 4. September 1972 bis 13. Juni 1975 ist nachgewiesen. Die Ausbildungszeit des Klägers ist ebenfalls in den Akten des Jugendamtes der Stadt Mainz dokumentiert. Am 13. Juni 1975 hat der Kläger die Ausbildung beendet. Das Abschlusszeugnis befindet sich in den Akten. Zudem haben die Eheleute L. und M. L. mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 bestätigt, dass der Kläger bei ihnen in der Lehre gewesen sei und auch ein Herr O. O. jahrelang bei ihnen beschäftigt gewesen sei.

(b) Das Vorbringen des Klägers zu den selbst erlebten Misshandlungen, sexuellen Übergriffen und seelischen Leiden hält die entscheidende Kammer für glaubhaft.

Der Kläger hat im Laufe des Verfahrens mehrfach Erlebnisse aus der Zeit seines Aufenthalts im Kinderheim in der D-Straße in D-Stadt und während der Ausbildungszeit in der Bäckerei L. geschildert. Signifikante Abweichungen im Vorbringen oder erhebliche Widersprüche lassen sich nicht feststellen. Im Interview mit dem Gutachter Prof. Dr. X. hat der Kläger anschauliche Details und Einzelheiten über die sexuellen Übergriffe durch den Prälaten Dr. K. und andere Personen geschildert, insbesondere während der Zeit als Ministrant. In dieser Zeit war der Kläger nicht nur psychischen Misshandlungen (durch Demütigungen und dem Zwang zu Dr. K. gehen zu müssen, sowie Einsperren im kalten Keller) und körperlichen Misshandlungen (durch Schläge, auch mit Gegenständen) ausgesetzt, sondern – im Alter der eigenen Pubertät – auch zahlreichen sexuellen Übergriffen. Besonders prägend in der Jugendzeit des Klägers war der sexuelle (Einzel-) Missbrauch durch den Prälaten Dr. K. (aa), die Teilnahme an sexuellem (Gruppen-) Missbrauch, durch von Dr. K. organisierte Treffen (sog. Sexpartys) (bb), das Erlebnis mit dem schwangeren, erhängten Mädchen (cc) und der sexuelle Missbrauch während seiner Ausbildung in der Bäckerei L. durch den dortigen Gesellen (dd). Dagegen sind etwaige Medikamentenversuche an dem Kläger nicht nachgewiesen.

(aa) Zum sexuellen Missbrauch durch Dr. K. gibt der Kläger an, er sei sein persönlicher Messdiener gewesen. Ab einem Alter von 6 Jahren sei es zu Berührungen gekommen und ab 8 Jahren dann zu Vergewaltigungen, solange bis er mit 14 bzw. 15 gerade Jahren das Heim verlassen habe. Er sei von Dr. K. unter dem Vorwand, im Haus oder Garten helfen zu sollen, einbestellt worden und wenn er sich geweigert habe, dort hinzugehen, hätten ihn die Nonnen gezwungen, durch Schläge oder dadurch, dass sie ihn hingebracht hätten. Dies sei ein- bis dreimal pro Woche erfolgt. Bei Dr. K. sei es zu Oralverkehr und sehr schmerzhaftem Analverkehr gekommen. Er sei über die Kniebank gelegt worden, damit der Prälat leichter von hinten habe in ihn eindringen können. Dies sei dessen Lieblingsstellung gewesen. Dabei sei er festgehalten worden. Es sei so weit gegangen, dass er geblutet habe. Zunächst habe Dr. K. ihn alleine missbraucht, dann sei noch ein weiterer Mann dabei gewesen und schließlich habe es sich hin zu „Sexpartys“ ausgeweitet.

(bb) Dr. K. sei ein hochrangiger Geistlicher der katholischen Kirche gewesen, der auch andere Personen (Freunde und Politiker) zu sog. „Sexpartys“ eingeladen habe. Dazu sei es etwa alle drei bis vier Monate gekommen. Vor allem wenn irgendwelche Feierlichkeiten angestanden hätten, wie auch politische Ereignisse, z.B. ein Wechsel in der Landesregierung. Der Kläger sei in dieser Zeit im Alter zwischen 8 und 14 bzw. gerade 15 Jahren gewesen. Bei den Gruppenvergewaltigungen seien andere Jungen und auch Mädchen dabei gewesen, so auch das später erhängte Mädchen. Es habe einen Raum gegeben, in dem die Nonnen die Herren mit Getränken und Speisen bedient hätten, in der anderen Ecke seien die Kinder vergewaltigt worden. Die Nonnen hätten daran verdient. Die anwesenden Herren hätten großzügig gespendet. Er habe es mehrfach gesehen. Meistens seien zwei Jungen und ein Mädchen dabei gewesen. Die Meisten, der beteiligten Herren, hätten schwule Neigungen gehabt, deswegen seien auch mehr Jungen als Mädchen dazu geholt worden. Wenn einer mal ein Mädchen gewollt hätte, dann habe er eins bekommen. Die Mädchen seien zwischen 8 und 12 Jahren alt gewesen. Er habe ihre Schreie heute noch im Ohr. Es seien Betten gemacht gewesen, mit Leinentüchern, wenn es vorbei gewesen sei, und bei den Kindern Geschlechtsorgane aufgerissen seien, dann seien die Betttücher blutig gewesen. An den Abenden der „Sexpartys“, seien sie vier- bis fünfmal genommen worden. Es seien mal drei, mal fünf oder auch mal sieben Herren im Alter zwischen 40 und 60 Jahren beteiligt gewesen. Es sei auch zu sexuellen Kontakten mehrerer Männer mit einem Kind gekommen, bei denen gleichzeitig Anal- und Oralverkehr stattgefunden habe. Das Gebrüll, das die Mädchen dann losgelassen hätten, sei ihm heue noch in den Ohren. Die meisten der damals beteiligten Kinder seien heute tot. Viele hätten sich selbst umgebracht, so auch sein bester Freund Y.

(cc) Bei den „Sexpartys“ habe er ein Mädchen kennengelernt. Damals sei er 10 oder 11 Jahre alt gewesen, das Mädchen sei etwa ein Jahr jünger als er gewesen. Als sie dann 12 Jahre alt war und er 13 Jahre, sei es zu einem prägenden Vorfall gekommen. Sie seien wieder bei „Sexpartys“ dabei gewesen. Das Mädchen sei schwanger geworden und habe es nicht mehr ausgehalten. Er habe versucht ihr zu helfen und habe sie dann 14 Tage später tot aufgefunden. Er sei mit dem Mädchen zusammen bei der Polizei und anderen Behörden gewesen. Überall habe man sie als Lügner dargestellt. Eines Tages sei das Mädchen verschwunden. Er habe sie beim Abendessen vermisst und nach ihr gesucht. Er sei zum Speicher hochgelaufen und habe sie dort erhängt aufgefunden. Er glaube jedoch nicht an Selbstmord. Es habe keine Aufstiegshilfe gegeben. Er vermutet, dass das Mädchen zu viel gewusst habe. Vielleicht habe sie den Namen des Herren gekannt, von wem sie schwanger geworden sei. Er sei entsetzt gewesen, als er sie erhängt gesehen habe und sei innerlich zerbrochen. Wenige Tage zuvor habe er noch versucht, ihr zu helfen. Wenn ihnen nur jemand zugehört hätte, wäre das Mädchen vielleicht am Leben geblieben. Es sei entsetzlich gewesen. Danach sei er aggressiv geworden und habe versucht sich körperlich zu wehren, dies habe aber nur weitere Schläge durch die Nonnen hervorgerufen.

(dd) Im Alter von 15 Jahren ist der Kläger zur Ausbildung in die Bäckerei L. in D-Stadt gekommen. Dort hat er bis zum Alter von 17 Jahren gewohnt. Sein Bett habe in einem Durchgangszimmer gestanden. Dahinter habe sich das Zimmer des 10 Jahre älteren Gesellen O. O. („O.“) befunden. Dieser habe viel Alkohol getrunken. Gleich in der ersten Nacht sei er über ihn hergefallen. Dies sei dann jeden zweiten Tag geschehen und habe schlagartig aufgehört, nachdem er den Gesellen zusammengeschlagen habe.

Bei seinen Schilderungen gibt der Kläger eigene Gefühle und persönliche Reaktionen an, er schildert Angst, sogar Todesangst, Hass und Ekel, er habe sich beschmutzt und verdreckt gefühlt. Er habe einfach unter Wasser gewollt, um alles weg zu spülen, habe aber weder duschen noch baden dürfen. Er gibt auch an, sich verkrochen und einen Ausgleich gesucht zu haben, in dem er viel gelesen habe. Durch das „Verkriechen“ habe er versucht, sich dem Zugriff der Nonnen zu entziehen. Mehrmals gibt der Kläger bei seinen Schilderungen zu den „Sexpartys“ an, er habe die Schreie („das Gebrüll“) der Mädchen heute noch in den Ohren. Zum Auffinden des erhängten Mädchens schildert der Kläger, das Geschehnis werde er nie wieder los. Man könne vieles vergessen, aber das Gesicht dieses Mädchens werde er nie vergessen, es sei so friedlich gewesen.

Die Schilderungen des Klägers enthalten anschauliche Details und Einzelheiten, wie blutverschmierte Bettlaken bei den „Sexpartys“ und die heftigen Schreie der missbrauchten Kinder. Auch schildert der Kläger anschaulich, wie er nach den „Sexpartys“ zurück ins Heim laufen musste und dabei Schmerzen hatte und merkte, wie ihm das Blut die Beine herunterfloss. Die Jungen hätten damals noch Lederhosen getragen. Es habe alles in einem engen räumlichen Zusammenhang stattgefunden. Das Kinderheim sei vom Dom etwa 150 m weg gewesen, vom Bischöflichen Ordinariat ca. 50 m. Der Kläger gibt an, wenn der Bahnhof in der Nähe gewesen wäre, heute mit Sicherheit nicht mehr am Leben zu sein, dann hätte er sich umgebracht. Nach einer Vergewaltigung hätte er jedoch nicht die Kraft dazu gehabt, noch bis zum Bahnhof zu laufen.

Er habe Verletzungen durch Schläge (teilweise mit Stangen und Stahlrohren) und Analeinrisse davongetragen. Der Kopf sei mehrfach gegen die Wand geschlagen worden. Auch sei es zu mehreren Armbrüchen gekommen. Der Kläger schildert, die Nonnen hätten „mit allem gehauen“, was sie in die Hände bekommen hätten. Dazu sei es vor allem vor und nach den „Sexpartys“ gekommen.

Der Kläger schildert auch, wie sehr ihn das alles belaste, und dass er bei seinem letzten Besuch in D-Stadt „einfach zusammengebrochen“ sei. Er könne nicht mehr nach D-Stadt gehen und er könne sich auch keine katholische Messe mehr im Fernsehen anschauen.

Der Kläger äußert auch, wie schwer es für ihn war, den Gutachter überhaupt aufzusuchen und sich der Begutachtungs-Situation zu stellen, über die damaligen Ereignisse ausführlich berichten zu müssen.

All das spricht für authentische Angaben des Klägers, von selbst Erlebtem und belegt zur Überzeugung des Gerichts, dass der Kläger vor allem während seines Heimaufenthaltes in D-Stadt heftigen körperlichen und psychischen Misshandlungen, sowie in erheblichem Umfang sexuellem Missbrauch ausgesetzt war.

Die Überzeugung des Gerichts von erlittenem Missbrauch und Misshandlungen des Klägers vermag auch nicht zu erschüttern, dass die Schwester Z. Z. bei einem Gespräch mit dem Kläger am 22. März 2013 geäußert hat, es habe keinen Anlass gegeben, sexuellen Missbrauch anzunehmen und dass ihr auch nichts von einem erhängten Mädchen bekannt sei. So ist schon nicht klar, wann diese Nonne sich genau in dem Kinderheim D-Straße in D-Stadt aufgehalten hat und was ihre Aufgabe dort war, vor allem inwieweit sie überhaupt persönlichen Kontakt zu dem Kläger hatte. Angaben dazu finden sich nicht. Die Schwester gab allerdings an, 1972 zum Studium wegegewesen zu sein und sich nicht in D-Stadt aufgehalten zu haben. Wann genau die Studienzeit stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Entsprechendes gilt auch soweit vom Orden der H. Schwestern angegeben wird, damals dort tätige Nonnen hätten die Behauptungen des Klägers nicht bestätigt. Insoweit fehlen jede Angaben dazu, welche Nonnen befragt wurden, wann diese in D-Stadt waren, welche Tätigkeiten ihnen dort oblegen haben und ob sie den Kläger kannten. Möglicherweise wird belastendes Verhalten der Nonnen aber auch in der eigenen Erinnerung zum Selbstschutz verdrängt.

Auch der Umstand, dass bei Behörden und der Staatsanwaltschaft nichts zu dem Vorfall bezüglich des erhängten Mädchens bekannt ist, vermag die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers nicht zu erschüttern. Unklar ist ob und wie dieser Todesfall überhaupt dokumentiert und gemeldet wurde, zudem dürfte davon auszugehen sein, dass bei einem „Selbstmord“ keine weiteren Ermittlungen durchgeführt worden sind.

Ebenso vermag auch der Umstand, dass die Eheleute L. und M. L. mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 mitgeteilt haben, dass ihnen sexuelle Übergriffe nicht aufgefallen seien, bzw. ihnen nicht bekannt seien, die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers nicht zu erschüttern. Die Eheleute L. waren bei den Übergriffen des Gesellen O. O. nicht dabei und es ist unklar, ob sie davon überhaupt etwas mitbekommen haben.

(c) Nicht nur der Kläger selbst berichtet von sexuellen Übergriffen durch den Prälaten Dr. K. während seines Heimaufenthalts in D-Stadt. Der Justitiar des Bistums D-Stadt, T. T., hat mit Schreiben vom 4. April 2019 dargelegt, dass auch andere Zeugenaussagen eine Täterschaft des verstorbenen Prälaten Dr. K. K. in anderen Fällen bestätigt haben. So dass sie nun davon ausgingen, dass auch der Kläger Opfer dieses Herrn geworden sei. In einem weiteren Schreiben vom 19. August 2019 konkretisiert Herr T., es hätten sich inzwischen zwei weitere Betroffene bei ihren Ansprechpartnern für sexuellen Missbrauch gemeldet, deren Aussagen als glaubhaft gewertet würden. Das Bistum gehe in seiner Verwaltungspraxis im Zusammenhang mit sog. „Anträgen in Anerkennung des Leids“ nach den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz davon aus, dass bei verstorbenen mutmaßlichen Tätern, die von mehr als einem Zeugen benannt würden, eine Missbrauchshandlung vorliege. Dies sei hier der Fall.

Von der Vernehmung von Zeugen hat das Gericht abgesehen. Herr T. hat die Namen der anderen ehemaligen Heimkinder, die ebenfalls Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe des Prälaten Dr. K. erhoben haben, dem Gericht nicht benannt. Zudem war auch nicht zu erwarten, dass sie zu konkreten Missbrauchstaten an dem Kläger Angaben machen können.

Die vom Kläger selbst benannten Zeugen P. P. und Q. Q. waren „um die 70er Jahre“ im Kinderheim Oberammergau in Bayern. Da diese beiden Personen nicht im Kinderheim im D-Stadt gelebt haben, können sie zu den dortigen Vorfällen und Ereignissen keine Angaben machen.

(2) Zur Überzeugung der Kammer steht nach der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. X. mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest, dass der Kläger allein wegen der während seines Heimaufenthalts in den Jahren von 1963 bis 1972 und der anschließenden Ausbildungszeit von 1972 bis 1975 erlittenen Missbrauchshandlungen schwerbeschädigt ist und aufgrund dessen die Voraussetzung des § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG vorliegt. Gemäß § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG besteht ein Versorgungsanspruch nur, solange der Anspruchsteller allein infolge der außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des OEG stattgefundenen Schädigung schwerbeschädigt ist. Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) mindestens 50 beträgt. Die Kernfrage besteht darin, ob festgestellt werden kann, dass ab dem Zeitpunkt der Antragstellung (am 24. April 2015) bis heute bei dem Kläger ein GdS von mindestens 50 allein wegen der Schädigung vorliegt. Ein Versorgungsanspruch besteht nur, solange die Schwerbeschädigung allein durch die Tat verursacht ist. Das rechtliche Erfordernis, dass allein durch die Vorkommnisse während des Heimaufenthalts in der Kindheit und der Ausbildungszeit des Klägers ein GdS von 50 erreicht sein muss, gilt also nicht nur für einen bestimmten Stichtag, sondern während des gesamten Versorgungsbezugs (Dauervoraussetzung).

Zur Ermittlung der Höhe des GdS gilt folgendes: Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1). Bei der Beurteilung des GdS sind die Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung -VersMedV-) zu beachten.

Zur Überzeugung der entscheidenden Kammer ist der Kläger schwerbeschädigt (a) und ist diese Schädigung auch mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf die stattgefundenen körperlichen und seelischen Übergriffe zur Zeit des Heimaufenthalts und der Ausbildung in D-Stadt in den Jahren 1963 bis 1975 zurückzuführen (b).

(a) Nach den Feststellungen im gerichtlich eingeholten Gutachten des Prof. Dr. X. vom 26. Oktober 2019 leidet der Kläger unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) (ICD-10: F43.1). Der jahrelange sexuelle Missbrauch und teilweise auch die körperlichen Misshandlungen erfüllten das A1-Kriterium einer PTBS. Das B-Kriterium werde durch die vorhandenen Intrusionen erfüllt. Die Vermeidung des Widerauftretens belastender Nachhallerinnerung z.B. durch Arbeitsplatzwechsel oder den Rückzug aus sozialen Beziehungen trete ebenfalls auf (C-Kriterium). Auch das D1 Kriterium werde in Form teilweiser Amnesie erfüllt. Das D2-Kriterium, die erhöhte Schreckhaftigkeit bzw. Hypervigilanz, liege ebenfalls vor. Die PTBS gehe im konkreten Fall einher mit Gesundheitsstörungen wie depressiver Verstimmung, Gefühlstaubheit und unterdrückung, Interessenverlust, reduzierter allgemeiner Lebenszufriedenheit und Leistungsfähigkeit bedingt durch Intrusionen, Vermeidung sozialer Kontakte, Gefühle von Entfremdung und Isolation, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, verbunden mit übermäßiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit. Diese gewaltbedingten Gesundheitsstörungen und Schädigungsfolgen bestünden auch heute noch fort. Der Grad der Schädigungsfolgen betrage bei der vorhandenen Schwere der Störungen als Folge psychischer Traumen mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten und weiteren Folgeerscheinungen seit der Antragstellung im April 2015 bei dem Kläger 70 von 100. Die Schädigungsfolgen wirkten sich seit Jahren unverändert aus.

Das Gericht folgt den schlüssigen und nachvollziehbaren gutachterlichen Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. X. Nach Ziffer B 3.7 der Versorgungsmedizin-Verordnung sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdS von 0 – 20 zu bewerten. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) werden mit einem GdS von 30 – 40 bewertet. Und schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 50 – 70 bzw. mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 80 – 100. Dem Gutachter ist darin zu folgen, dass bei dem Kläger schwere psychische Störungen vorliegen mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten.

Nach den umfassenden Testungen und Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. X. liegen zur Überzeugung des Gerichts bei dem Kläger schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor. Der Gutachter führt aus, es bestünden bei dem Kläger deutliche psychische und körperliche Funktionsbeeinträchtigungen in Form einer depressiven Störung, von ausgeprägtem Vermeidungsverhalten, von vorhandenen Intrusionen, übermäßiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit, eingeschränkter Regulationsfähigkeit und Reizbarkeit, von reduzierter psychophysischer Belastbarkeit und vorzeitiger Erschöpfbarkeit, reduzierter allgemeiner Lebenszufriedenheit und deutlicher Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Allgemein seien bei dem Kläger durch diese Symptome die Bereiche Affektregulation, Beziehungen zu anderen Menschen, Arbeit einschließlich Hausarbeit, Erotik und seine Lebenseinstellung und allgemeine Leistungsfähigkeit betroffen. Die geschilderten Beschwerden seien bedingt durch wiederholte und anhaltende traumatisierende Einflüsse während seines knapp 10-jährigen Heimaufenthalts im katholischen Schwesternheim D-Straße in D-Stadt im Alter von 6 bis 14 bzw. gerade 15 Jahren und in geringerem Umfang auch durch den sexuellen Missbrauch durch den Gesellen in der Bäckerei L. in der Zeit von 1972 bis 1975, der durch den Kläger nach zwei Jahren dadurch beendet worden sei, dass er den Gesellen massiv verprügelt habe. Diese traumatisierenden Erfahrungen hätten schon wenige Monate nach dem Beginn der Erfahrungen des schweren sexuellen und körperlichen, sadistisch gefärbten Missbrauchs zum Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt, die trotz Schwankungen in der Ausprägung bis zum heutigen Tag unvermindert vorhanden sei, wie sich immer wieder in den Schilderungen im CAPS-Interview gezeigt habe. Das CAPS (Clinician Administered PTSD Scale) – Interview ist ein strukturiertes klinisches Interview, anhand dessen die Diagnose der PTBS für verschiedene Zeiträume erfasst wird.

Der Gutachter Prof. Dr. X. legt dar, dass der vom Kläger geführte Kampf um Gerechtigkeit und Anerkennung seiner schweren traumatischen Erfahrungen vor allem der Widerherstellung seiner Selbstachtung und einer kompensatorischen Widerherstellung seiner verlorenen Selbstkohärenz gedient habe, ohne die der Kläger vermutlich wie manche andere ehemalige Heimkinder auch, die sich das Leben genommen haben, nicht mehr am Leben wäre, entweder weil er aufgegeben und sich umgebracht hätte oder weil durch die enorm belastende Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen bei wiederkehrender Hilf- und Hoffnungslosigkeit auch die körperliche Widerstandsfähigkeit zusammengebrochen wäre.

Der Kläger leide auf psychischem Fachgebiet unter Berücksichtigung der dargestellten Funktionseinschränkungen an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittel- bis schwergradige Episode (F33.2) als Traumafolgestörung und einer mittlerweile chronischen schweren posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die sowohl testpsychologisch als auch psychopathologisch nachzuweisen sei. Darüber hinaus bestünden mögliche und auch wahrscheinliche Zusammenhänge zu den in der Kindheit erfahrenen Traumatisierungen in Bezug auf die Entstehung des Übergewichts und des Diabetes mellitus sowie des Bluthochdrucks.

Nach den ICD-10 müsse ein kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß erfahren worden sein, dass nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Im Fall des Klägers lägen mindestens zwei chronisch traumatisierende Situationen als Auslöser der PTBS vor, ein etwa 1000 x wiederholter sexueller Missbrauch in Form von Anal- und Oralverkehr, auch durch mehrere Männer und erdulden von Erniedrigungen und massiver körperlicher Gewalt (mit mehrfachen Knochenbrüchen), sowie etwa ein zwei Jahre andauernder analer und oraler sexueller Missbrauch durch den Gesellen in der Bäckerei L. Die Folgen seien große Angst, Gefühle der Hilflosigkeit und von Entsetzen und dem Empfinden von Lebensbedrohung, der Verletzung körperlicher Unversehrtheit (A-Kriterium). Dazu komme, dass für ein 7 bis 15-jähriges Kind die geschilderte Situation zumindest am Anfang völlig unberechenbar und überwältigend gewesen sei. Der Kläger habe zeitweise unter Schock gestanden oder dissoziierte, letzteres bis in die Gegenwart.

Im Kontext der gesamten Heimsituation und den willkürlichen und sadistischen sexuellen Missbrauchspraktiken sei bei dem Kläger neben Angst- und Schamgefühlen, weniger Schuldgefühlen, das Empfinden totaler Auslieferung und eines vollständigen Verlusts der Selbstwirksamkeit und Selbstachtung entstanden. Unterstützend für diese Annahme sei die Traumadefinition von Fischer und Riedesser (2009): „Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergehe und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt.“ Dies könne man bei dem Kläger zweifelsfrei feststellen.

Auch der behandelnde Psychotherapeut, Dipl.-Psychologe Dr. W. hat im Befundbericht vom 20. Juli 2018 die Symptomatik des Klägers in ähnlicher Weise beschrieben und identische Diagnosen gestellt. Die dort beschriebenen Funktionseinschränkungen stimmen weitestgehend mit den vom Gutachter Prof. Dr. X. festgestellten Einschränkungen überein. Der Kläger war bereits damals nicht belastbar und nur gelegentlich in sehr geringem Umfang arbeitsfähig.

Der Gutachter Prof. Dr. X. führt weiter aus, spätestens seit 2009 (als bei dem Kläger seine eigenen Erlebnisse durch die Berichte im Zusammenhang mit den Ereignissen an der CC schule, in deren unmittelbaren Nähe er damals wohnte, wieder „hoch kamen“) sei bei dem Kläger ein Zustand des Getriebenseins entstanden, das erlittene Unrecht in Form des vielfachen und grausamen Missbrauchs fast etwas hyperaktiv und kontraphobisch zu bewältigen. Dieser Kampf als Lebensrettung, zur Rettung seiner Selbstachtung und seines nahezu zerstörten Selbstgefühls, habe der Abwehr von Scham, Ohnmacht und Angst gedient. Man spreche hier von einer Wutstörung, die z.B. auch bei Veteranen beschrieben werde. Der Kläger habe sich für den Kampf entschieden, weshalb er auch in den letzten Jahren trotz immer wieder vorhandener schwerer persönlicher Belastung durch Konfrontation mit der Vergangenheit weiter um seine Rechte gekämpft habe. Im Grunde sei er heute noch beherrscht von permanenten Bedrohungsgefühlen, einer Hab-Acht-Stellung in Form ständiger Hypervigilanz und doch auch bereit zu kämpfen, anstatt zu fliehen.

Die über viele Jahre andauernden traumatischen Erfahrungen, die der Kläger insbesondere während seines Aufenthalts im katholischen Schwesternheim in D-Stadt gemacht hatte, führten zur Entwicklung eines Traumaschemas, als Ausdruck des Regulationsverlusts. In diesem Traumaschema enthalten seien die Erinnerungen an den Ablauf des Traumas, die währenddessen vorhandenen weiteren Erlebnisphänomene und ein subjektives Bild von Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit angesichts vorhandener Bedrohung. Normalerweise vorhandene kognitiv-emotionale Fähigkeiten stünden aufgrund der akuten Belastungen nicht mehr zur assimilativen Verarbeitung zur Verfügung und die bedrohliche Situation müsse abgewehrt werden bzw. eine Anpassung an diese werde notwendig. Eine intensive und andauernde traumaspezifische psychotherapeutische Behandlung habe zwar stattgefunden, sei jedoch nicht ausreichend gewesen. Daher sei das Traumaschema bei dem Kläger auch höchstens in Teilen bearbeitet gewesen. Dafür sprächen die Chronifizierung der PTBS und die bestehende Symptomatik.

Durch die bei dem Kläger immer wieder auftauchenden dissoziativen Momente und Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen sei die Aufmerksamkeit eingeschränkt, durch Rückzug und Vermeidung (außerhalb des Themas Trauma) und sein untergründiges Gefühl des Bedrohtseins seien globale psychosoziale Funktionen eingeschränkt. Die massiven Schlafstörungen verhinderten eine aufmerksame und teilnehmende Tagesgestaltung. Im sozialen Kontakt ebenfalls stark behindernd sei die ausgeprägte Scham über die erlittenen Traumatisierungen und der deutlich herabgesetzte Selbstwert.

Prof. Dr. X. bewertet die schwere Posttraumatische Belastungsstörung mit mittelgradigen sozialen Anpasungsschwierigkeiten mit einem GdS von 60, sowie eine rezidivierende depressive Störung mit einem GdS von 30 und die körperlichen Schädigungsfolgen (Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes mellitus) als im weiteren Sinne vorhandene Traumafolgestörungen ebenfalls mit einem GdS von 30, den gesamt GdS bewertet der Gutachter mit 70.

Nach Auffassung der entscheidenden Kammer besteht bei dem Kläger eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten, die in ihrer Gesamtheit und Ausprägung im oberen Bereich des Bewertungsrahmens (GdS 50 bis 70) anzusetzen und mit einem GdS von 70 zu bewerten ist. Bei mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist für die meisten Berufe von Auswirkungen psychischer Veränderungen auszugehen, die zwar eine Fortsetzung der Tätigkeit grundsätzlich noch erlauben, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingten, die auch eine berufliche Gefährdung einschließe. Erhebliche familiäre Probleme seien in diesem Falle durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung zu erwarten. Es besteht aber noch keine Isolierung und kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z.B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden kann. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten in Folge einer psychischen Störung sind dadurch gekennzeichnet, dass eine weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen sei. In diesem Fall seien schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis, bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis, zu finden (vgl. dazu Nieder, Losch, Thomann in: Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, 2012, S. 86).

Gemessen an diesen Kriterien ist festzustellen, dass der Kläger seit Jahren nicht dazu in der Lage ist, eine regelmäßige Erwerbstätigkeit ausführen. Von seiner Ehefrau lebt er getrennt, allerdings besteht noch ein guter Kontakt zu seinen beiden Söhnen, so dass nicht von einer gänzlichen Isolierung auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht die Schwelle zu schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten – ebenso wie der Gutachter – als noch nicht übertreten an. Unter Beachtung der schweren Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit, wie auch der familiären Belastungen und der durch das Trauma hervorgerufenen depressiven Symptomatik, sieht das Gericht eine Bewertung der Posttraumatischen Belastungsstörung und ihrer Folgen mit einem GdS von 70 als angemessen bewertet an. Das Gericht sieht den Schwerpunkt der Beeinträchtigung des Klägers als im psychischen Bereich gegeben an, hinsichtlich der Störungen (Diabetes mellitus, Übergewicht und Bluthochdruck) hält das Gericht den Ursachenzusammenhang für nicht ausreichend belegt.

Die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers bestehen nach den Darlegungen des Gutachters Prof. Dr. X. auch bereits seit der Beantragung von Opferentschädigungsleistungen im April 2015 bis heute anhaltend fort.

(b) Zur Überzeugung der erkennenden Kammer ist auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die massiven Misshandlungen zur Zeit des Heimaufenthalts von 1963 bis 1972, sowie die Missbrauchserfahrung während der Ausbildungszeit von 1972 bis 1974/75 ursächlich für die noch heute vorhandenen ausgeprägten psychischen Störungen des Klägers sind. Das entscheidende Gericht folgt dem Gutachter darin, dass die bei dem Kläger bestehenden psychischen Störungen – in Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit depressiver Symptomatik – mit hoher Wahrscheinlichkeit als Schädigungsfolgen anzusehen sind und die erforderliche Kausalität gegeben ist. Der Gutachter Prof. Dr. X. hat überzeugend dargestellt, dass die Beschwerden des Klägers durch wiederholte und anhaltende traumatisierende Einflüsse während des knapp 10 jährigen Heimaufenthalts im katholischen Schwesternheim D-Straße in D-Stadt im Alter von 6 bis 15 Jahren und in geringerem Umfang auch durch den sexuellen Missbrauch durch den Gesellen in der Bäckerei L. in der Zeit von 1972 bis 1974 bedingt sind. Nach den Angaben des Gutachters ist die Entstehung der PTBS bei dem Kläger eindeutig auf die Ereignisse im katholischen Kinderheim D-Straße in D-Stadt zurückzuführen, in deutlich geringerem Umfang auf die Erfahrungen mit dem Gesellen der Bäckerei L.

Ebenso hat auch der behandelnde Diplom-Psychologe Dr. W. W. im Befundbericht vom 20. Juli 2018 ausgeführt, dass die psychopathologische Symptomatik des Klägers ursächlich eindeutig auf langjährige, massive Missbrauchs- und Gewalterfahrungen als Kind und Jugendlicher in einem katholischen Kinderheim des Bistums D-Stadt zurückzuführen sei.

Im sozialen Entschädigungsrecht gilt die Kausalitätstheorie der „wesentlichen Bedingung“. Als Ursache sind unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben, also annähernd gleichwertig sind. Kommt einer Bedingung eine überwiegende Bedeutung zu, so ist sie allein die wesentliche Bedingung (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. Juni 2012, – L 4 VG 13/09 -, in juris). Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, dass eine andere Traumatisierung oder eine andere Ursache eine überwiegende Bedeutung für die (heute noch vorhandenen) psychischen Störungen des Klägers hat. Die Schädigungen und Misshandlungen während der Heimunterbringung in der Kindheit und Jugend waren deshalb wesentliche Bedingung.

(3) Der Kläger ist auch bedürftig im Sinne des § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OEG. Bedürftig ist ein Anspruchsteller nach § 10a Abs. 2 OEG, wenn sein Einkommen im Sinne des § 33 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) den Betrag, von dem an die nach der Anrechnungsverordnung (§ 33 Abs. 6 BVG) zu berechnenden Leistungen nicht mehr zustehen, zuzüglich des Betrages der jeweiligen Grundrente, der Schwerstbeschädigtenzulage sowie der Pflegezulage nicht übersteigt. Damit ist ein Vergleich zwischen dem relevanten Einkommen – nicht relevant ist das Vermögen – und einem bestimmten Bedarfssatz vorzunehmen. Die Einkommensabhängigkeit nach § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OEG gilt auch für die nach dem BVG an sich einkommensunabhängigen Leistungen wie Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage und Pflegezulage (Bayerisches LSG, Urteil vom 18. Februar 2014, – L 15 VG 2/09-, in juris, Rdn. 164).

Bedürftigkeit des Klägers im Sinne des § 10a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OEG lag vom Zeitpunkt der Antragstellung (April 2015) bis zur gerichtlichen Entscheidung durchgängig vor. Der Kläger stand während der gesamten Zeit im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), damit ist seine Bedürftigkeit ausreichend nachgewiesen.

(4) Der Kläger – der in A-Stadt im Kreis Bergstraße lebt – hat überdies im Geltungsbereich des OEG seinen Wohnsitz (§ 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OEG).

Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers sind wie oben dargelegt mit einem Gesamt-GdS von 70 angemessen bewertet.

Nach alledem besteht der geltend gemachte Entschädigungsanspruch des Klägers. Der Ablehnungsbescheid vom 12. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2017 waren deshalb aufzuheben und der Beklagte zu verurteilen, die entsprechenden Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger die ihm zustehende Versorgung zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.